* 37 *
Beetle und Jenna sahen sich den Buchdeckel an.
Herzlich zugeeignet dem Außergewöhnlichen Zauberer Julius Pike
meinen Inseln.
»Warum hat sie ihren Namen geändert und Sachen durchgestrichen?«, fragte Jenna.
»Lies, dann wirst du es verstehen«, erwiderte Septimus.
Jenna schlug das Buch auf. Sie und Beetle begannen zu lesen.
Mein lieber, lieber Julius, ich schreibe dieses Buch für dich. Ich hoffe, dass wir es eines Tages in deinem großen Zimmer oben im Zaubererturm vor dem Kamin gemeinsam lesen werden. Aber die Ereignisse der letzten Woche haben mich gelehrt, dass es immer anders kommen kann, als man denkt, und darum weiß ich, dass du diese Zeilen eines Tages möglicherweise alleine lesen wirst – oder wirst du sie vielleicht sogar niemals lesen? Doch gleichwohl, ob und wann dieses Büchlein den Weg in die Burgfindet (und ich weiß, dass es das tun wird), möchte ich aufschreiben, was deinem treuen Lehrling, Syrah Syara Sirene, widerfahren ist, nachdem er den Questenstein gezogen hat.
Hier nun die Geschichte meines Unglücks:
Ich hätte nie erwartet, dass ich den Questenstein ziehen würde. Er war so lange nicht gezogen worden, dass ich schon glaubte, es gebe ihn gar nicht wirklich. Noch als ich den Stein gezogen hatte, konnte ich es nicht glauben. Ich dachte, du spielst mir wieder einen deiner Streiche. Doch als ich dein Gesicht sah, da wusste ich, dass dem nicht so war. Der Augenblick, als mich die Questenwächter fortbrachten, war der schlimmste in meinem Leben. Ich habe mich auf dem ganzen Weg zum Questenschiff zur Wehr gesetzt, aber ich war allein gegen die sieben magischen Wächter. Ich konnte nichts tun.
Das Questenschiff nahm mir meine Zauberkräfte und machte mich hilflos. Ich glaube, das Schiff selbst war magisch, aber nicht von der Art Magie, die du und ich benutzt haben. Es segelte so schnell den Fluss hinunter, dass es schien, als ob wir schon wenige Minuten, nachdem wir in der Burg abgelegt hatten, Port erreichten. Wirflogen an der Stadt förmlich vorbei und hinaus auf das offene Meer. Minuten später entschwand das Land meinen Blicken, und ich wusste, dass ich verloren war.
Während wir durch die Wellen jagten, guckten die Questenwächter ihre Messer und umkreisten mich wie Geier, doch sie wagten es nicht, über mich herzufallen, solange ich ihnen in die Augen sah. Es wurde Nacht, und ich wusste, dass ich, wenn ich auch nur einen Augenblick einschlief, nie wieder aufwachen würde. Ich blieb die ganze erste Nacht wach, und auch den ganzen folgenden Tag, doch als es zum zweiten Mal dunkelte, bezweifelte ich, dass ich noch allzu lange gegen den Schlaf würde ankämpfen können. Mitternacht war längst vorüber, und bis zum Morgen war es nicht mehr lange, als mir die Lider zufielen und ich ein blitzendes Messer auf mich zukommen sah. Augenblicklich war ich hellwach und sprang über Bord.
Oh, Julius, wie kalt das Wasser war – und wie tief. Ich sank wie ein Stein, bis meine Kleider sich aufblähten und mich langsam an die Oberfläche trugen. Ich entsinne mich, dass ich den Mond über mir sah, während ich nach oben schwebte, und als ich auftauchte, sah ich, dass das Questenschiff nicht mehr da war. Ich war allein im weiten Meer, und ich wusste, dass ich in ein paar Minuten wieder in die Tiefe sinken würde, zum letzten Mal. Dann spürte ich zu meiner Freude, wie meine Zauberkräfte zurückkehrten. Ich rief einen Delfin, und er brachte mich zu einem Leuchtturm, der – du wirst es nicht glauben, Julius – an der Spitze Ohren hatte wie von einer Katze und Augen, durch die ein sonnenhelles Licht strahlte.
Der Leuchtturm war ein seltsamer Ort. Es lebten darin zwei Wesen, die sich, mehr Katzen als Menschen, um die magische Kugel kümmerten, die das Licht spendete. Für den Fall, dass ein Schiff vorbeikam, hinterließ ich bei ihnen eine Nachricht – ob du sie wohl erhalten wirst, bevor ich zurückkehre? Ich hatte mir vorgenommen, selbst auf ein vorbeikommendes Schiff zu warten, doch in jener Nacht, als ich auf einem harten Bett in einer Kammer schlief, hörte ich, wie eine Stimme so lieblich meinen Namen rief Ich konnte nicht widerstehen. Auf Zehenspitzen schlich ich aus dem Leuchtturm und rief meinen Delfin. Er brachte mich der Insel.
Mein Delfin trug mich zu einem felsigen Strand, wo das Wasser tief war. Nicht weit entfernt fand ich ein paar Dünen und sank dort in Schlaf Am andern Morgen wurde ich vom leisen Rauschen der Wellen und einer sanften Stimme geweckt, die meinen Namen über den Sandflüsterte. Als die Sonne über dem Meer aufging, ging ich am Strand entlang und wähnte mich in einem Paradies. Julius, wie ich mich geirrt habe.
»Den letzten Satz hat sie später hinzugefügt«, sagte Beetle, der ein Auge für Handschriften hatte. »Er ist viel zittriger geschrieben.«
»Und er ist durchgestrichen«, ergänzte Jenna.
»Von jemand anders«, erwiderte Beetle. »Das merkt man daran, dass die Feder anders gehalten worden ist.« Jenna blätterte um. Das Buch ging als Tagebuch weiter.
ERSTER INSELTAG
Ich habe mir in einer geschützten Senke mit Blick auf den Leuchtturm ein Lager errichtet. Ich sehe das Licht gerne bei Nacht. Heute habe ich alles gefunden, was ich brauche: Süßwasseraus einer Quelle, eine stachelige, aber süße Frucht, die ich in einem Wäldchen pflückte, und ich habe mit bloßen Händen zwei Fische gefangen (siehst du, es war doch keine Zeitverschwendung, dass ich im Burgraben gefischt habe!). Und was das Beste ist: Ich habe am Strand ein angeschwemmtes Schiffslogbuch gefunden. Ich werde es als Tagebuch benutzen. Bald, Julius, werde ich meinen Delfin rufen und zu dir zurückkehren, aber vorher möchte ich wieder zu Kräften kommen und diesen wunderschönen Ort genießen, der voll von Gesang ist. Ich singe.
ZWEITER INSELTAG
Heute habe ich meine Erkundungen fortgesetzt. Ich habe einen Strand entdeckt, der am Fuß einer Klippe versteckt liegt, bin aber nicht lange geblieben. Die Klippe ragt hoch empor, und ich hatte das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Ich bin sehr neugierig darauf, was mich oben auf der Klippe erwartet – ich glaube, es ist etwas Schönes. Vielleicht werde ich morgen den Hügel mit dem Bäumen auf der Kuppe erklimmen und nachsehen, was da oben ist. Komm zu mir.
DRITTER INSELTAG
Heute Morgen erwachte ich von der lieblichen Stimme. Sie rief nach mir. Ich ging dem Gesang nach, und seltsamerweise führte er mich den Hügel hinauf und in das Wäldchen, das ich heute ohnehin hatte aufsuchen wollen. Hinter dem Wäldchen, auf dem höchsten Punkt der Klippe, entdeckte ich einen einsamen Turm. Er hat einen Eingang, aber davor sah ich eine dunkle Kraft. Ich beobachtete sie eine Weile, bis ich spürte, dass sie mich zu stark anzog. Jetzt bin ich wieder in meinem Versteck in den Dünen. Ich werde nie wieder zu dem Turm gehen. Ich bin fest entschlossen, morgen meinen Delfin zu rufen und in die Burg zurückzukehren. Ach, Julius, wie sehne ich mich danach, dein Lächeln zu sehen, wenn ich wieder durch die große silberne Tür des Zaubererturms gehe. Nie wieder.
VIERTER INSELTAG
Heute bin ich vor dem Turm aufgewacht. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist. Ich bin noch nie schlafgewandelt, aber ich glaube, so muss es gewesen sein. Zum Glück bin ich aufgewacht, bevor ich hineingegangen bin. Ich bin weggerannt, obwohl mich eine wunderschöne Stimme angefleht hat zu bleiben. Ich bin jetzt wieder in meinem Versteck in den Dünen und habe Angst. Ich habe meinen Delfin gerufen, aber er ist nicht gekommen. Er wird niemals kommen.
FÜNFTER INSELTAG
Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan, denn ich hatte Angst davor, wo ich aufwachen würde. Mein Delfin ist noch immer nicht gekommen. Ich werde heute Nacht nicht schlafen.Schlafe!
SECHSTER INSELTAG
Letzte Nacht bin ich wieder wach geblieben. Ich bin so müde. Es ist, als wäre ich wieder auf dem Questenschiff. Bald wird die Nacht anbrechen, und ich fürchte mich davor. Wenn ich einschlafe, wo werde ich aufwachen? Ich fühle mich so einsam. Das Buch ist mein einziger Freund. Heute Nacht wirst du zu mir kommen.
»Das ist ja furchtbar«, schauderte Jenna.
»Es wird noch schlimmer«, sagte Septimus. Er schlug die dünne Seite um, und mit einer bangen Ahnung lasen Jenna und Beetle weiter.
SIEBTER INSELTAG
Heute bin ich im Turm aufgewacht. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich bin Sirene.
»Oh«, rief Jenna. »Oh, wie schrecklich.«
Hier endete das Tagebuch, aber es gab noch eine letzte leserliche Seite, die schmutzig und abgegriffen war. An dieser Stelle klappte das Buch von alleine auf, wenn man es in die Hand nahm. Was dort stand, sah auf den ersten Blick wie die Schönschreibübung eines Kindes aus, die immer aufs Neue wiederholt wurde, doch statt von Mal zu Mal besser zu werden, wurde die Schrift immer unordentlicher und nach und nach durch eine andere ersetzt.
Ich bin Syrah Syara. Ich bin neunzehn Jahre alt. Ich komme aus der Burg. Ich war Julius Pikes Außergewöhnlicher Lehrling. Ich bin Syrah Syara. Ich bin Syrah Syara.
Ich bin Syrah Syara. Ich bin neunzehn Jahre alt. Ich komme aus der Burg von der Insel. Ich war bin Julius Pikes Außergewöhnlicher Lehrling die Insel. Ich bin Syrah Syara. Ich bin Syrah Syara Sirene.
Ich bin Sirene. Ich bin ohne Alter. Ich komme von der Insel. Ich bin die Insel. Ich bin Sirene. Ich bin Sirene. Wenn ich rufe, wirst du zu mir kommen.
»Sie ist verschwunden«, flüsterte Jenna und schüttelte fassungslos den Kopf. Sie blätterte weiter und suchte nach Syrahs sauberer, freundlicher Handschrift. Aber da war nichts mehr. Nur noch komplizierte, gestochen scharf gezeichnete Zeichen und Symbole, die keinem von ihnen etwas sagten. Jenna schlug das Buch zu und reichte es Septimus.
»Mir ist«, flüsterte sie, »als hätte ich dabei zugesehen, wie jemand ermordet wird.«
»Das haben wir auch«, stimmte Septimus zu. »Wir haben zugesehen, wie jemand besessen worden ist, und das läuft auf dasselbe hinaus. Glaubt ihr mir jetzt?« Jenna und Beetle nickten.
»Beetle«, sagte Septimus, »ich übernehme die erste Wache und du die zweite. In zwei Stunden wecke ich dich. Jenna, du brauchst etwas Schlaf. Einverstanden?«
Jenna und Beetle nickten abermals. Keiner sagte ein Wort. Septimus suchte sich einige Meter vom Unterstand entfernt in der Senke zwischen zwei Dünen eine Stelle, die ihm einen guten Blick auf den Strand ermöglichte und ihm selbst ausreichend Deckung bot. Obwohl er nicht wusste, was die Nacht bringen würde, fühlte er sich frisch und war guten Mutes. Jetzt hatte er wieder die Unterstützung seiner Freunde, und was auch geschehen mochte, sie würden es gemeinsam durchstehen. Syrah musste sich schrecklich einsam gefühlt haben, so ganz allein mit ihrem kleinen blauen Buch.
Septimus saß reglos da wie ein Stein, atmete die kühle Luft und lauschte dem fernen Rauschen der Wellen, die sich immer weiter zurückzogen. Er drehte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen, beobachtete die Spitzen der Grashalme, lauerte auf Anzeichen einer Bewegung, suchte mit den Augen den leeren Strand vor ihm ab, horchte. Alles war still.
Stunden vergingen. Es wurde kalt, aber Septimus rührte sich nicht und blieb wachsam, wurde beinahe eins mit der Düne. Das unwirkliche Leuchten der Lichtsphäre erhellte den Himmel zu seiner Linken, und als der Mond aufging und die Ebbe das Meer noch weiter hinaustrug, bemerkte Septimus, wie der glitzernde weiße Rücken einer Sandbank aus dem Wasser auftauchte. Das Rauschen der Wellen verklang, und in der eintretenden Stille vernahm er den fernen Schrei einer Möwe – und das zielstrebige Tapsen nackter Füße auf nassem Sand.